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14.07.2025 | Margit von Kuhlmann

„Kinder brauchen Gelegenheit, Berufe erleben zu können“

Interview mit Dr. Lara Altenstädter, Soziologin an der Universität Duisburg-Essen

Geschlechtergleichstellung im Wissenschaftsbetrieb ist ein Schwerpunktthema der Arbeit von Dr. Lara Altenstädter. Schon Grundschulkinder ordnen unbewusst Berufe Männern oder Frauen zu, auch den Beruf „Forscherin/Forscher“. Eine Lösung: Eine frühere und vor allem geschlechtersensible berufliche Orientierung.

„Kinder brauchen Gelegenheit, Berufe erleben zu können“

Dies ist eine gekürzte Fassung des Textes.

Das komplette Interview finden Sie in der Infothek.

 

Frau Dr. Altenstädter, Sie forschen unter anderem zu Geschlechterungleichheiten in der Wissenschaft. In Universitäten, aber auch in der Wirtschaft, hört man die Aussage: „Positionen werden bei uns nach Leistung besetzt, nicht nach Geschlecht“. Das erklärt die Gender Gaps jedoch nicht. Mehr Mädchen als Jungen eines Jahrgangs machen Abitur und studieren. Trotz dieser Leistungsorientierung der Frauen gehen Professuren noch immer häufig an Männer. Was sind die Ursachen?

Diese vermeintlich geschlechtsneutrale Leistungsorientierung – die sogenannte Bestenauswahl – ist ein zentrales Narrativ im Wissenschaftssystem. Der Satz „Positionen werden bei uns nach Leistung besetzt“ blendet zwei Dinge aus: erstens, dass Leistungen immer kontextabhängig sind. Das heißt, gute Arbeitsbedingungen, ein unterstützendes soziales Umfeld und günstige Herkunftsbedingungen beeinflussen, welche Leistungen jemand erbringen kann. Und zweitens ist wissenschaftliche Exzellenz weder objektiv messbar, noch wird diese neutral oder geschlechtsunabhängig bewertet. Vielmehr ist wissenschaftliche Exzellenz eine konstruierte Vorstellung und wird an Kriterien gemessen, die von Menschen mit Macht und Einfluss (im Wissenschaftssystem, historisch bedingt, immer noch überwiegend Männer) festgelegt wurden.

Unsere Forschungen im EXENKO-Projekt „Exzellenz entdecken und kommunizieren“– gemeinsam mit meinen Kolleginnen Prof. Ute Klammer, Dr. Maren A. Jochimsen und Eva Wegrzyn – zeigen deutlich: Die Zuschreibung von Exzellenz ist in hohem Maße durch soziale und kulturelle Erwartungen geprägt – und damit auch durch Geschlechterstereotype beeinflusst.

Es greift zu kurz nur auf individuelle Leistung zu schauen. Wir brauchen strukturelle Veränderungen in Hochschulen – etwa eine reflexive Betrachtung der wissenschaftlichen Exzellenzkriterien, gezielte Förderung der medialen Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen und eine geschlechtersensible Wissenschaftskommunikation. Erst wenn wir Leistungen kontextualisieren und die bestehenden Anerkennungsstrukturen kritisch hinterfragen, können wir die Geschlechterungleichheit im Wissenschaftssystem wirksam adressieren.

Geschlechterklischees setzen sich schon in der frühen Kindheit in den Köpfen fest. Sie selbst haben im Rahmen einer Studie Grundschulkinder gebeten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu malen. Welche Erkenntnisse konnten Sie daraus ziehen?

Tatsächlich prägen sich Geschlechterbilder und Vorstellungen von Wissenschaft sehr früh – oft unbewusst und vermittelt durch Medien, Schule und Alltag. In meiner qualitativen Forschungsarbeit habe ich elf Grundschulkinder, deren Mütter in der Wissenschaft tätig sind, gebeten: „Zeichne eine forschende Person.“ Dabei wollte ich herausfinden, welche inneren Bilder von Wissenschaft und Forschenden in den Köpfen der Kinder existieren – und ob sich durch die familiäre Nähe zu einer Wissenschaftlerin stereotype Vorstellungen verändern.

Dies scheint tatsächlich so zu sein, denn sechs von elf Zeichnungen zeigten weibliche Forschende – teils mit der klaren Aussage „Das bist du, Mama“. Das ist insofern bedeutsam, als klassische Studien wie der „Draw-A-Scientist“-Test seit Jahrzehnten nachweisen, dass Kinder häufig stereotype Bilder von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zeichnen – also öfter ältere Männer mit Kittel, Brille und Reagenzglas. In meinen Daten wurden diese Vorstellungen zumindest teilweise aufgebrochen, was auf den Einfluss direkter weiblicher Rollenvorbilder hinweist.

Nur wenn wir Kindern zeigen, dass eine forschende Person auch eine Frau in Jeans auf einer Ausgrabung oder am Laptop sein kann – und nicht nur ein Mann im weißen Kittel – schaffen wir die Grundlage für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft der Zukunft.

In meinen Daten wurden diese Vorstellungen zumindest teilweise aufgebrochen, was auf den Einfluss direkter weiblicher Rollenvorbilder hinweist.

Dr. Lara Altenstädter

Zeichnung

Die berufliche Orientierung ist ein längerer Prozess, der schon viel früher beginnt als in der 8. Klasse, wenn in den meisten Bundesländern Berufswahl ein Thema im Unterricht wird. Was würden Sie sich auf der Basis Ihrer Forschung für die berufliche Orientierung an Schulen wünschen?

Die Ergebnisse unterschiedlicher Studien zeigen sehr deutlich: Die Vorstellung davon, was ein Beruf ist und wer diesen Beruf typischerweise ausübt, entwickelt sich bei Kindern schon im frühen Grundschulalter – lange bevor formale Berufswahlprozesse einsetzen.

Was ich mir daher für die schulische Berufsorientierung wünsche, ist ein früheres, vielfältigeres und vor allem geschlechtersensibles Heranführen an berufliche Möglichkeiten – und zwar jenseits tradierter Rollenmuster. Kinder brauchen Gelegenheit, Berufe nicht nur kognitiv kennenzulernen, sondern sie auch erleben zu können, durch Begegnungen, praktische Einblicke, Geschichten und persönliche Vorbilder. Toll finde ich auch Vorlesungen an Hochschulen für Kinder verschiedener Altersgruppen. An der Universität Duisburg-Essen haben wir die Kinder-Uni seit 2004 und laden zur „Unikids“ alle Kinder zwischen 8 und 12 Jahren ein.

Daneben kann man frühzeitige Berufsorientierung zum Beispiel in Form von Projekttagen oder in Grundschulen anbieten, eine bewusste Auswahl von Vorbildern treffen, etwa durch Einladungen von Wissenschaftlerinnen, Handwerkerinnen, Gründerinnen etc., die nicht den gängigen Geschlechterstereotypen entsprechen. Das gleiche gilt andersherum auch für Jungs.

Aus meiner Sicht ist aber vor allem auch eine kritische Medienbildung sehr wichtig, die Kindern vermittelt, dass Rollenbilder in Werbung, Film oder Social Media nicht die Vielfalt realer Lebens- und Arbeitswelten abbilden. Hier sind vor allem die Eltern gefragt– denn der familiäre Einfluss ist gerade in der frühen Phase der Orientierung zentral.

Die zentrale Frage, die man sich im Kontext beruflicher Orientierung immer stellen sollte, ist: Welche Bilder von Arbeit, Leistung und Erfolg vermitteln wir unseren Kindern und Jugendlichen – und wem öffnen wir damit Türen? Nur wenn wir das Berufswahlspektrum geschlechtergerecht und inklusiv erweitern, geben wir Kindern die Möglichkeit, sich frei und selbstbewusst zu entwickeln – auch in Berufe, in denen sie sich bislang vielleicht nicht gesehen haben.

Nur wenn wir das Berufswahlspektrum geschlechtergerecht und inklusiv erweitern, geben wir Kindern die Möglichkeit, sich frei und selbstbewusst zu entwickeln – auch in Berufe, in denen sie sich bislang vielleicht nicht gesehen haben.

Dr. Lara Altenstädter

Junge Menschen nutzen heute ganz selbstverständlich Tools wie ChatGPT – „chatgpten“ ist dabei, das neue „googeln/ zu werden. Auch Selbsterkundungstools und Tools, die die Berufsorientierung unterstützen, nutzen KI. Was bedeutet das für die klischeefreie berufliche Orientierung und die Berufswahl?

Die Tatsache, dass junge Menschen heute selbstverständlich „chatgpten“, zeigt, wie tiefgreifend generative Künstliche Intelligenz (KI) in unsere Alltags- und Wissenspraktiken eingedrungen ist – auch im Kontext beruflicher Orientierung.

Das birgt ein enormes Potenzial: KI-gestützte Tools könnten Schülerinnen und Schülern helfen, Informationen individuell aufzubereiten, Interessen zu reflektieren und neue Berufsbilder und Berufsalltage kennenzulernen. Doch dieses Potenzial ist ambivalent – denn KI ist keineswegs neutral. KI basiert auf Trainingsdaten, die unsere gesellschaftlichen Strukturen widerspiegeln – inklusive ihrer Ungleichheiten und Stereotypen. Und das bedeutet: Wenn bestimmte Berufe historisch häufiger von Männern ausgeübt wurden, nehmen KI-Modelle diese Assoziationen auf – und reproduzieren sie in ihren Ausgaben.

Gerade für junge Menschen in der Phase der Berufsorientierung ist das problematisch. Sie begegnen diesen Systemen oftmals mit wenig Hintergrundwissen über KI – und übernehmen möglicherweise unkritisch das, was ihnen als passende Karriereoption „ausgerechnet“ wird. Eine geschlechterstereotype Suggestion durch KI kann so Entscheidungsprozesse lenken, bevor sie überhaupt bewusst getroffen wurden.

Deshalb brauchen wir einen bewussten, reflexiven Umgang mit KI in der Berufsorientierung. Damit KI nicht zur Reproduktion bestehender Rollenbilder beiträgt, sondern zu einer klischeefreien beruflichen Orientierung führen kann, braucht es eine bewusste pädagogische und gesellschaftliche Rahmung.

Auch Lehrkräften kommt dabei eine zentrale Rolle zu: Sie sollten Jugendliche anhalten, die Ergebnisse solcher Tools nicht unreflektiert zu übernehmen, sondern gemeinsam mit den Jugendlichen analysieren, welche Berufsbilder vorgeschlagen und wie gerahmt werden – und welche Aspekte und Informationen möglicherweise durch die Technik ausgeblendet werden.

Damit Lehrkräfte Jugendliche informiert in diesem Orientierungsprozess begleiten können, ist es auch wichtig, dass dieses Thema integraler Bestandteil des Lehramtsstudiums ist. Wenn wir als Gesellschaft diese Aspekte mitdenken, kann KI tatsächlich ein Werkzeug für mehr statt weniger Chancengerechtigkeit werden. Aber dazu müssen wir sie aktiv gestalten – technisch, ethisch, politisch und pädagogisch.

Damit KI nicht zur Reproduktion bestehender Rollenbilder beiträgt, sondern zu einer klischeefreien beruflichen Orientierung führen kann, braucht es eine bewusste pädagogische und gesellschaftliche Rahmung.

Dr. Lara Altenstädter