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22.04.2020

Systemrelevante Berufe: Corona-Krise macht Geschlechterklischees sichtbar

In der Krise merken wir, was wirklich zählt. So erleben wir gerade Verkäuferinnen, Pflegerinnen und Gebäudereinigerinnen als „systemrelevant“ – Berufe, über die wir vor der Krise gerne hinweggesehen haben: anstrengend, schwierige Arbeitszeiten, geringer Verdienst. Hauptsächlich Frauen arbeiten darin.

Kassiererin mit Mundschutz bedient Kundin im Supermarkt

An der Supermarktkasse, im Krankenhaus oder im Pflegeheim: Verkäuferinnen, Pflegerinnen aber auch Gebäudereinigerinnen tragen gerade entscheidend zum Funktionieren unseres Alltags bei. Die meisten dieser sogenannten systemrelevanten Berufe sind unterdurchschnittlich bezahlt und wenig angesehen, wie kürzlich eine Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aufgezeigt hat. Und sie werden vor allem von Frauen ausgeübt. Forscherinnen und Forscher sehen Zusammenhänge zwischen dem unterdurchschnittlichen Verdienst, dem geringen Prestige und dem weiblichen Geschlecht der Mehrheit derer, die diese Berufe ausüben.

Rund 70 Prozent der jungen Frauen, die eine duale Ausbildung absolvieren, konzentrieren sich auf zehn Ausbildungsberufe. Neben der Kauffrau für Bürokommunikation auf Platz 1 sind dies vor allem die (Zahn-)Medizinische Fachangestellte sowie die Verkäuferin und die Kauffrau im Einzelhandel. Noch viel mehr junge Frauen entscheiden sich für eine schulische Berufsausbildung im Bereich Gesundheit, Erziehung oder Soziales. Sie werden zum Beispiel Erzieherinnen, aber auch Kranken- und Altenpflegerinnen. 76 Prozent der Ausbildungsanfängerinnen und -anfänger eines Jahrgangs in diesem Segment sind Frauen.

Warum entscheiden Frauen sich trotz des eher unterdurchschnittlichen Gehalts für diese Berufe? Individuelle Interessen spielen natürlich eine Rolle, aber auch Rollenklischees, die oft unbewusst wirken und dazu beitragen, dass Frauen einen gesellschaftlich als adäquat empfundenen Beruf wählen. Adäquat bedeutet auch: passend zum Geschlecht. Aus den gleichen Gründen entscheiden sich junge Männer für einen technischen oder handwerklichen Beruf. Hier wirken Klischees, die Frauen die soziale oder pflegerische Rolle oder Tätigkeiten mit vermeintlich geringem Wert zuweisen. Männer hingegen sollen in der Lage sein, eine Familie zu ernähren. Ihrer Arbeit wird daher größerer Bedeutung beigemessen. Bis heute gilt in der Bevölkerung ein gewisser Gender Pay Gap nicht als ungerecht, es ist für viele okay, wenn Männer ein paar Prozent mehr verdienen als Frauen. Dies wiesen Forscherinnen und Forscher des DIW kürzlich im Rahmen einer Befragung nach.

In der Geschichte galt die Arbeit von Frauen als weniger wert, unabhängig von der Art und dem Anspruch der Tätigkeit selbst. Dies wirkt bis heute nach. Noch vor nicht allzu langer Zeit sahen hierzulande Tarifverträge für Frauen eine geringere Entlohnung für die gleiche Tätigkeit vor als für Männer. Interessant ist auch, dass Berufe an „Wert“ verlieren, wenn sie sich von einem männerdominierten zu einem frauendominierten Beruf entwickeln, das heißt, wenn der Frauenanteil 60 Prozent übersteigt, wie eine Schweizer Studie 2015 nachwies. Dies lässt sich zum Beispiel anhand des Friseurhandwerks beobachten, bis vor wenigen Jahrzehnten eine Männerdomäne. Heute überwiegen Frauen, und die Verdienstmöglichkeiten sind im Vergleich zu anderen Handwerken schlechter.

Notwendig wäre also, Berufe neu zu bewerten und das Geschlecht dabei außen vor zu lassen. Die Altenpflege beispielsweise ist fachlich, psychisch und körperlich anspruchsvoll und kann darin sicher mit deutlich besser entlohnten Berufen in der Industrie mithalten. Ansätze wie der CW-Index des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung haben schon längst vor der Corona-Krise für eine Neubewertung der Berufe anhand tatsächlicher Anforderungen geworben.

Ein solcher Ansatz würde viele der systemrelevanten Berufe attraktiver für junge Menschen machen, denn viele von ihnen leiden unter Nachwuchssorgen. Die Ausbildungszahlen bei Erzieherinnen und Erziehern sind im Schuljahr 2017/2018 zwar um 32 Prozent zum Vorjahr gestiegen. Dennoch übersteigt das Stellenangebot in fast allen Kommunen die Nachfrage. Nicht besser ist es in Pflegeheimen oder Krankenhäusern. Der Personalmangel dort ist schon fast sprichwörtlich. In den Pflegeberufen stagnieren die Ausbildungszahlen (Krankenpflege, Altenpflege) oder steigen nur ganz leicht zwischen ca. drei und fünf Prozent (Helfende Berufe). Verkäuferinnen und Verkäufer im Lebensmittelhandwerk beispielsweise waren auch schon vor dem Corona-Lockdown gefragt. Jedes Jahr bleiben Ausbildungsstellen unbesetzt.

Das Ansehen eines Berufs spielt für junge Menschen bei der Berufswahl also ebenso eine Rolle wie das Gehalt oder Aufstiegsmöglichkeiten. Dies bestätigt eine Erhebung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Berufe mit einem schlechten Image werden demzufolge weniger von Jugendlichen in Erwägung gezogen, darunter leiden auch die systemrelevanten Berufe.

Die Corona-Zeit ist für den Arbeitsmarkt eine Chance: Sie zeigt auf, wie wichtig viele Berufe mit geringem Ansehen und Verdienst eigentlich für die Gesellschaft sind und wie unterbewertet sowohl in ihrem Ansehen als auch in ihrer Entlohnung. Die Krise macht auch deutlich, dass Frauen einen gewichtigen Beitrag zum Funktionieren zentraler gesellschaftlicher Institution leisten. Klatschen und Singen wird auf Dauer als Wertschätzung nicht ausreichen. Besser wäre es, den Wert einer Tätigkeit vom Geschlecht abzukoppeln und stattdessen ihre fachlichen, körperlichen und psychischen Anforderungen in den Mittelpunkt zu stellen. Damit stiegen Ansehen und Gehalt vieler systemrelevanter Berufe und sie würden interessanter für junge Frauen wie auch für junge Männer.

Quellen: