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Geschlechterklischees in der Berufswahl

Gastbeitrag von Prof. Barbara Schwarze

Geschlechterklischees in Ausbildung, Studium und Beruf haben eine lange Tradition. Woher sie kommen, welche Nachteile sie mit sich bringen und wie sie überwunden werden können erläutert Prof. Barbara Schwarze, Vorsitzende des Kompetenzzentrums Technik-Diversity-Chancengleichheit e. V.

Prof. Barbara Schwarze, Vorsitzende des Kompetenzzentrums Technik-Diversity-Chancengleichheit e. V.

Geschlechterklischees in der Berufswahl

Haben Berufe ein Geschlecht? Eine Betrachtung der jährlichen Arbeitsmarktstatistik scheint dies zu bestätigen. Es gibt Berufe, die überwiegend von Männern ausgeübt werden, zum Beispiel auf dem Bau, in der Industrie, der IT oder im Handwerk. Und es gibt Berufe, in denen sich überwiegend Frauen finden, beispielsweise in der Pflege, in der Erziehung oder im Dienstleistungsbereich.

Nach Artikel 12 des Grundgesetzes haben alle Menschen in Deutschland das Recht, ihren Beruf frei zu wählen. Doch bis heute wird die Berufswahl durch Geschlechterklischees über Frauen und Männer beeinflusst. Sie schränken die Wahl für Schülerinnen und Schüler ein, und das Spektrum der in Betracht gezogenen Ausbildungsberufe und Studiengänge verengt sich, ohne dass die Gründe für die Jugendlichen oder ihre Eltern sichtbar würden.

Gut 57 Prozent der jungen Männer und rund 70 Prozent der jungen Frauen konzentrieren sich auf jeweils 20 Ausbildungsberufe. Dabei gibt es mehr als 320! Die Rangliste unterscheidet sich nach Geschlecht: Junge Männer werden Kfz-Mechatroniker, Industriemechaniker oder Elektroniker, junge Frauen dagegen zieht es in die Büros als Kauffrau für Büromanagement oder in die Arztpraxen als (Zahn-)Medizinische Fachangestellte. Oder sie wählen eine der schulischen Ausbildungen wie Erzieherin oder Logopädin. Eine duale Berufsausbildung absolvieren mehrheitlich Männer, eine schulische in der Mehrzahl Frauen.

Oberkörper einer Lehrerin in weißer Bluse um die Jahrhundertwende, die Hände halten ein Buch

Neue Arbeitswelt – neue Berufe. Aber nur für Männer

Woher kommen diese Präferenzen? Hier lohnt ein Blick auf die Entwicklung der Berufsbildungswege seit dem 19. Jahrhundert. Viele der heutigen technischen Berufe haben ihren Ursprung in der industriellen Revolution1. Neue Berufe entstanden, die eine fachbezogene (Aus-)Bildung erforderten. Die Berufe wurden beispielsweise an neu entstehenden Ingenieurschulen gelehrt, aus denen sich später die Fachhochschulen entwickelten. Frauen stand dieser Bildungsweg (noch) nicht offen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts begannen sie sich langsam Wege in die Hochschulen zu bahnen.

Zugang zu höherer Bildung hatten zunächst nur Frauen aus dem Bürgertum oder dem Adel. Die breite Masse der Frauen arbeitete in der Landwirtschaft als mithelfende Familienangehörige oder erledigten Lohnarbeit zu Hause. Im Zuge der Industrialisierung zog es viele Frauen in die Fabriken, vor allem in die Textil- und Tabakindustrie, denn dort waren die Löhne höher als in der Heimarbeit, allerdings deutlich geringer als die der Männer. Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren Berechnungen des Sozialhistorikers Gerhard Schildt zufolge im Jahr 1882 45 Prozent der 15-bis 20-Jahre alten Frauen erwerbstätig, 32 Prozent der 20- bis 30-Jährigen und nur noch 18 Prozent der 30- bis 40-Jährigen. Die Erwerbstätigkeit endete üblicherweise mit der Heirat. Die Domäne der Frauen war zu dieser Zeit über alle sozialen Schichten hinweg die Erziehung und die Pflege. Frauen aus wohlhabenden Familien waren zudem in der Wohlfahrt aktiv.

Erste Ansätze höherer Bildung für junge Frauen aus dem Bürgertum waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sogenannten „Sozialen Frauenschulen“ und die Lehrerinnenseminare. Sie zielten darauf ab, die pflegerische, erzieherische und karitative Arbeit zu professionalisieren und zu Berufen weiterzuentwickeln. Es entstanden Ausbildungen wie die zur Kleinkindlehrerin oder Kindergärtnerin oder in der Krankenpflege. Ein sozialer Beruf oder eine Tätigkeit als Lehrerin galt im Bürgertum durch die Nähe zu „mütterlichen“ Aufgaben gerade noch als schicklich für Frauen. Den Frauen eröffneten sich Möglichkeiten, mit einer als „anständig“ geltenden Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Ingenieur mit Laptop in einer Fabrikhalle beugt sich über eine Maschine

Arbeitswelt – geteilte Welt

Männer und Frauen lebten beruflich lange Zeit in zwei Welten. Auch heute noch sind rund 23 Prozent der Studienanfängerinnen und -anfänger im Studienbereich Maschinenbau/Verfahrenstechnik Frauen. Im Fach Soziale Arbeit haben sich umgekehrt im Jahr 2017 23 Prozent Männer neu eingeschrieben. Bei den Ausbildungsberufen sieht es ähnlich aus: Einige technische oder Bauberufe werden fast ausschließlich von Männern ausgeübt. Berufe rund um Erziehung, Pflege und Soziales erscheinen dagegen als Frauendomäne.

Vorstellungen des 19. Jahrhunderts über Geschlecht und Beruf halten sich versteckt in Rollenklischees bis heute. In der „männlichen“ Berufswelt dreht sich viel um Herstellung, Konstruktion und Produktion z.B. von Autos, Anlagen, Maschinen, etc. Bis heute sehen sich viele Männer als Haupt- oder Alleinernährer einer Familie und glauben, im Beruf „ihren Mann“ stehen zu müssen. Eine gewisse Härte und Durchsetzungsstärke gilt dabei als positive Eigenschaft. In der „weiblichen“ Berufswelt geht es hingegen häufig um den Umgang mit Menschen oder das „Helfen-Wollen“.

Eine weibliche Pflegekraft kümmert sich um eine ältere Frau im Rollstuhl

Fachkulturen verstärken Rollenklischees. Beispiele Ingenieure und Sozialpädagoginnen

Diese Rollenklischees werden durch die gewachsenen Fachkulturen verstärkt. Beispiele sind hier die Ingenieurwissenschaft und die Sozialpädagogik. Beide weisen eine ausgeprägte berufsbestimmende Fachkultur auf: Die der Ingenieurberufe stellt Rationalität und die Anwendung von Regeln und physikalischen Gesetzen in den Mittelpunkt. Wissenschaftliche Methoden und das Erlangen „objektiven“ Wissens gelten als zentrale Fähigkeiten in diesen Berufen und werden männlich konnotiert. Die sozialen Fächer hingegen sind durch eine helfende und die Gesellschaft verbessern wollende Einstellung gekennzeichnet, die wiederum weiblich assoziiert ist.

Berufliche Fachkulturen wirken stark erhaltend auf die Geschlechterverteilung im Arbeitsmarkt. Sie beeinflussen die Erwartungen, die Vorgesetzte, Mitarbeitende und die Klientel an die „Passung“ des jeweiligen Nachwuchses haben. Ähnliches gilt für den Nachwuchs selbst, ihre Familie und ihr soziales Umfeld. Menschen, die eine größere Vielfalt in das fachkulturell geprägte Berufsfeld einbringen, haben es schwer.

Doch die Berufskulturen verändern sich, haben immer mehr Berührung und Schnittstellen zu anderen Berufsgruppen und Wissenschaften. Wer Technikprodukte für unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft wie zum Beispiel für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen oder ältere Menschen mit geringen Technikerfahrungen konzipiert oder optimiert, muss sich auch mit dem Lebensumfeld und den Lebensbedingungen dieser Menschen auseinandersetzen. Vielfach kooperieren Technikwissenschaften hierzu mit den so genannten Lebenswissenschaften (Biologie, Medizin) oder den Geistes- und/oder Sozialwissenschaften. Es sind bereits vielfach neue Fächer oder Fachschwerpunkte wie die Biotechnologie oder die Soziotechnologie entstanden, die die in der Vergangenheit häufig noch gepflegten und bewusst getrennt gehaltenen Fachkulturen zwischen Technik-, Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften zusammenbringen.

Teilnehmende an einem Boys'Day in einer Seniorenresidenz

Die Abkehr von Klischees lohnt sich!

In der Praxis ist die Abkehr von Klischees nicht so einfach. Stereotype bilden ein wirkmächtiges Hindernis. Für Männer in SAHGE-Berufen (= Soziale Arbeit, haushaltsnahe Dienstleistungen, Gesundheit und Pflege, Erziehung und Bildung) kann das zum Beispiel bedeuten, einerseits maskulinen Erwartungen entsprechen zu müssen und gleichzeitig eine professionelle aber feminin konnotierte Berufsrolle aufbauen zu müssen. Frauen in MINT-Berufen (= Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) hingegen erfahren, dass männliche Vorgesetzte, aber auch Kolleginnen und Kollegen, aufgrund von normativen Erwartungen und Wahrnehmungen ein genderkonformes Verhalten bei Männern belohnen, nicht aber bei Frauen.

Durchsetzungsstarke Männer erfahren zum Beispiel in hohem Maße Wertschätzung. Freundliches oder hilfsbereites Verhalten von Frauen wird dagegen eher neutral wahrgenommen und weniger wertgeschätzt. Nicht-genderkonformes männliche konnotiertes Verhalten von Frauen in MINT-Berufen wird oftmals als zu aggressiv oder zu ehrgeizig bewertet. Männer in SAHGE-Berufen wiederum erleben die stereotype Zuweisung „männlicher“ Aufgaben, zum Beispiel, indem sie in der Kita die Bauecke zugewiesen bekommen oder sich in der Rolle des Fußballverantwortlichen wiederfinden. Hinderlich für die Berufsentscheidung zugunsten eines SAHGE-Berufes ist auch die im Vergleich zu MINT-Berufen oftmals schlechtere Einkommenssituation.

Gender Pay Gap, Gender Care Gap und Klischees

Frauen verdienen je nach Betrachtungsweise zwischen 2 und 21 Prozent weniger als Männer. Dieser sogenannte Gender Pay Gap manifestiert im Arbeitsmarkt die Ungleichheit zwischen der Entlohnung von Männern und Frauen. 21 Prozent Unterschied beziehen sich dabei auf die absoluten Einkommen. Werden Effekte wie Teilzeitarbeit (vor allem Frauen reduzieren ihre Arbeitszeit), Berufswahl (vor allem weiblich dominierte Berufe werden schlechter entlohnt), Region, Branche und Unternehmensgröße herausgerechnet, beträgt der Unterschied je nach Berechnungsmethode immer noch 2 bis 6 Prozent. Die Effekte erklären die Gehaltsdifferenz also nur zum Teil. Ingenieurinnen sind ebenso betroffen wie Frauen in der Gesundheitsbranche oder der Sozialen Arbeit. In Untersuchungen wurden „Zwillingspaare“ gebildet, also Frau und Mann im gleichen Alter, mit vergleichbarer Ausbildung, fast identischem Berufsprofil, in einer vergleichbaren Region und mit einem vergleichbaren Arbeitgeber. In allen Stichproben ergab sich eine Entgeltlücke zu Ungunsten der Frauen.

Frauen sind es auch, die mehr Zeit für unentgeltliche Arbeit in heimischer Pflege, Erziehung und Haushalt verbringen. Die Differenz zwischen Frauen und Männern wird als der Gender Care Gap bezeichnet. Die Bezeichnung wurde im Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung entwickelt. Frauen verwenden demnach gut 52 Prozent mehr Zeit auf unbezahlte Sorgearbeit als Männer. Um diese Aufgaben zu leisten, arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit als Männer und erlangen ein entsprechend niedrigeres Lebenserwerbseinkommen und zumindest in Westdeutschland deutlich niedrigere Renten. Für den Osten Deutschlands gilt dies nicht im gleichen Maße.

Teilnehmende an einem Girls'Day schrauben an einem elektronischen Kleingerät

Maßnahmen wider die Klischees

Was ist zu tun, um mehr Chancengleichheit zu erreichen? Initiativen wie der Girls’Day und der Boys’Day arbeiten schon seit Jahren daran, Rollenklischees bei der Berufswahl entgegenzuwirken. Die Evaluation der Programme hat gezeigt, dass sie das Image von gegengeschlechtlich konnotierten Berufen bei den Jugendlichen positiv beeinflussen und das Berufswahlspektrum erweitern.

So hat der Anteil der Männer in der Altenpflegeausbildung von 2011 bis 2017 um 44 Prozent zugenommen, der in der Erzieherausbildung sogar um 64 Prozent. Ähnliches lässt sich für SAHGE-Studiengänge beobachten. In der Sozialen Arbeit ist der Männeranteil unter den Studienanfängerinnen und -anfängern im gleichen Zeitraum um 145 Prozent angestiegen. Gesundheitswissenschaften studieren über 250 Prozent mehr Männer als noch 2011. Diese Steigerungsraten klingen nach einem großen Erfolg. Man darf jedoch nicht vergessen, dass nur zwischen einem Viertel und einem Fünftel aller Auszubildenden und Studierenden in diesen Fächern Männer sind.

Umgekehrtes lässt sich auch für den Frauenanteil in technischen Ausbildungen und Studienfächern beobachten. Im Fach Physik stieg der Anteil der Frauen an allen Studienanfängerinnen und -anfängern von 23 Prozent im Jahr 2011 auf 33,8 Prozent im Jahr 2017. Das entspricht einer Steigerungsrate von sensationellen 269 Prozent. Trotzdem sind zwei Drittel der Studierenden Männer. –Im Ausbildungsberuf Elektroniker/Elektronikerin sind sogar nur 2 Prozent der neuen Auszubildenden im Jahr 2017 weiblich – trotz einer Steigerung um 92 Prozent seit 2011.

Eine junge Kfz-Mechatronikerin repariert in einer Werkstatt ein Auto

Gatekeeper müssen die Tore öffnen

Es gibt also noch viel zu tun. Maßnahmen rund um die Berufsorientierung Jugendlicher setzten recht spät im Lebenslauf an, während sich Geschlechterklischees bereits im Kindergartenalter bilden. Für den Prozess des Wandels spielen die sogenannten Gatekeeper eine wesentliche Rolle.

Das sind Personen, die unmittelbar Einfluss auf Kinder und Jugendliche haben: Eltern, Lehrkräfte, Berufsberaterinnen und -berater, Ausbilderinnen und Ausbilder und auch Personalverantwortliche oder Fach- und Führungskräfte. Sie bringen häufig stereotype Sichtweisen auf die Kompetenzen von Mädchen und Jungen in den Berufsorientierungsprozess ein und halten damit die Türen zu geschlechtsuntypischen Berufen verschlossen. Sie raten Mädchen von einem MINT-Beruf ab, weil sie ihn für ungeeignet und nicht vereinbar mit einer Familie halten (Familie gilt hier als Frauenaufgabe). Oder sie sehen für Jungen kaum Karriereperspektiven in einem SAHGE-Beruf (der Mann gilt als Ernährer) und bringen gegen eine solche Berufswahl Bedenken vor. Mit Anti-Bias-Trainings für Lehrkräfte, Berufsberaterinnen und -berater und für Personalverantwortliche und Fach- und Führungskräfte kann dem entgegengewirkt werden.

Ein Grundschullehrer sitzt mit Kindern an einem Tisch und zeichnet

Notwendig wäre auch eine geschlechtergerechte Bewertung der Arbeit, zum Beispiel mit dem Comparable Worth (CW)-Index des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, in dem die Anforderungen eines Berufs in ein gleichwertiges Verhältnis zur Entlohnung gebracht werden. Junge Menschen brauchen zudem Rollenvorbilder auf ihrem Weg. Sie zeigen, dass es Wege jenseits der Klischees gibt. Versuchen wir, die Klischees abzulegen. Es lohnt sich.

Fußnote:
[1] Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf Angehörige des Bürgertums. Das Bürgertum entwickelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu der treibenden gesellschaftlichen Kraft neben dem Adel. Es entfaltete eine große gestalterische Kraft in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Die breite Masse der Landbevölkerung und der Industriearbeiterschaft dagegen hatte kaum Chancen auf eine zukunftweisende Ausbildung und eine Verbesserung ihres oftmals in großer Armut geführten Lebens. Gemeinsam war allen gesellschaftlichen Schichten jedoch, dass die Bereiche, Haushalt, Erziehung und Pflege Aufgabe der Frauen waren.