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„Es ist absolut okay, wenn man keinen geraden Lebenslauf hat“

Emre Celik, EMEA Employee Relations and Investigations Partner

Vor ein paar Jahren konnte Emre Celik sich noch nicht vorstellen, beruflich dort zu sein, wo er heute ist. Er musste sich hochkämpfen, sein Start ins Berufsleben war holprig. Heute hat der Antidiskriminierungsexperte nicht nur im Job Erfolg, er engagiert sich auch für eine vielfältige Gesellschaft.

 „Es ist absolut okay, wenn man keinen geraden Lebenslauf hat“

Emre Celik ist umtriebig: der gefragte Vortragsredner, Vereinsgründer, Firmeninhaber und sozial engagierte Aktivist hat den Einsatz gegen Diskriminierung und für Fairness sowie Klischeefreiheit zu seinem Lebensthema gemacht. Auch in seinem Hauptberuf: Emre ist „Employee Relations and Investigations“ Partner bei Google Deutschland, also Antidiskriminierungsexperte.

In seinem Job ist Emre Ansprechperson für alle Mitarbeitenden, die sich aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens im Unternehmen benachteiligt fühlen. Er ermittelt bei konkrete Beschwerdefällen, arbeitet sie auf und versucht, für alle Beteiligten eine gute Lösung für ein faires Miteinander zu finden. Dabei arbeitet er eng mit der Personalabteilung, dem Betriebsrat, Führungskräften und auch der Geschäftsführung zusammen. „Mein Job ist es, die Werte, die Google vertritt, im Miteinander hochzuhalten“, fasst er selbst seine Arbeit zusammen. „Es sind hauptsächlich Fälle von Diskriminierung, von sexueller Belästigung oder auch von Vergeltung, bei denen Expert*innen so wie ich eingeschaltet werden.“

Mit Investigationen im Sinne eines Krimis hat dieser Beruf nichts zu tun. Es geht nicht darum, Täter*innen zu überführen. Wohl aber versucht Emre herauszufinden, was genau passiert ist, wenn jemand diskriminiert wurde oder der Vorwurf der Diskriminierung im Raum steht. Er erklärt das so: „Ich arbeite faktenbasiert. Ein wichtiger Teil meiner Arbeit besteht darin, dass ich eine tolle Gesprächsatmosphäre schaffe und den Mitarbeitenden das gute Gefühl gebe, offen auf meine investigativen Fragen antworten zu können. Wenn jemand nicht antworten will, kann ich das nicht erzwingen.“ Er holt wo nötig auch Betriebsrat, Personalabteilung und Führungsebene in die Fälle hinein. „Ich selber bin immer neutral, das ist ganz wichtig“, hebt er hervor. „Die Mitarbeitenden können sich auch über eine Funktions-E-Mail-Adresse anonym an mich wenden.“

Emre ist in der Region „EMEA“ (Europe, Middle East, Africa“) auch der Experte für den deutschen Arbeitsmarkt und berät Mitarbeitende zu Besonderheiten, wie beispielsweise zu den Aufgaben eines Betriebsrats. Dies erfolgt aber immer im Zusammenhang mit Antidiskriminierungsmaßnahmen. „Dieser Beruf ist in Deutschland noch relativ neu“, erklärt er das ungewöhnliche Berufsbild. „In Amerika gibt es das aber schon länger, und auch bei amerikanischen Firmen, die in Deutschland tätig sind.“ Diskriminierung und Mobbing sind genauso „echte“ Gefahren für Menschen, nur mit dem Unterschied, dass sie häufig nicht sichtbar sind. Unternehmen tun noch viel zu wenig dagegen. Das möchte ich nun mit meiner Rolle verändern und hoffe, dass sich mir viele anschließen.“

Mit Diskriminierungen hat Emre selbst eigene Erfahrungen gemacht. Als Sohn türkischer Einwanderer wuchs der heute 31-jährige in Bayern auf. Seine Mutter ließ sich scheiden und zog ihn und seine Schwester alleine groß. Die Familie hatte wenig Geld, seine Mutter hielt die Familie mit Fließband- und zwei Putzjobs über Wasser. Für Deutsche war Emre immer „der Türke“, für Türken war er häufig zu Deutsch. Als geouteter Schwuler erfuhr er zusätzliche Ablehnung in beiden Welten.

Das waren nicht die besten Startbedingungen für Emre Celik. Er schloss zunächst die Hauptschule ab. Weil er gute Leistungen zeigte, hängte er noch den mittleren Bildungsabschluss an. Anschließend bewarb er sich um kaufmännische Berufsausbildungen, doch es war zunächst schwer für ihn, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Als Emre schließlich eine Stelle fand, blieb er nicht lange. Er wurde aufgrund seiner türkischen Herkunft diskriminiert und gemobbt. Die Ausbildung brach er schließlich ab. Auch bei seinem nächsten Arbeitgeber lief es nicht besser. Im dritten Anlauf landete er als angehender Personaldienstleistungskaufmann bei einer kleinen Zeitarbeitsfirma. „Der Chef dieser Firma war der erste, der an mich glaubte“, freut sich Emre noch heute. „Er hat zum Beispiel gesagt, er sehe meine Talente und ich sei in dem Beruf genau richtig. Er hat mich sogar dabei unterstützt, mich mit 18 einbürgern zu lassen.“

Diese Erfahrungen haben Emre geprägt und bestimmten seinen weiteren Weg, ohne dass er dies bewusst so entschieden hätte, wie er sagt. „Ich habe mich schon immer für Fairness interessiert und deshalb als Personaldienstleistungskaufmann die Beschwerdefälle im Unternehmen übernommen.“ Das war der Startpunkt, ab dem Emre seinen Berufsweg nach seinen Interessen gestaltete. Er kümmerte sich um Fälle von Diskriminierung und wollte dazu beitragen, die Unternehmenskultur fairer zu gestalten. Beschäftigten, die ähnlich wie er Zurücksetzung oder Mobbing erlebten, wollte er wirksame Hilfe anbieten.

Emre wechselte die Arbeitsstellen, um weitere Erfahrungen zu sammeln und nutzte seine Chancen: „Als ich bei einem Telekommunikationsunternehmen gearbeitet habe, und mir dort angeboten wurde, als Personalmanager die Mitarbeitenden in den Shops zu betreuen, habe ich ¸ja' gesagt.“ Er stellte fest, dass das Arbeitsklima in den Läden nicht optimal war und Diskriminierungen zur Normalität gehörten. Emre nahm sich der Sache an und entwickelte Prozesse, wie Beschwerden von Mitarbeitenden eingereicht werden und ein besseres Miteinander erreicht werden konnte.

Parallel zu seiner Arbeit bildete Emre sich weiter: Zunächst als Personalfachwirt, anschließend studierte er Wirtschaftsrecht mit dem Schwerpunkt Arbeitsrecht im Bachelor und machte schließlich seinen Master in Personalwirtschaft. Er absolvierte eine Mediationsausbildung, die Ausbildereignungsprüfung und eine Ausbildung in Konfliktmanagement. Nebenher las er Fachliteratur über patriarchale und frauenfeindliche Strukturen in Gesellschaft und Arbeitsleben, über Diskriminierung und Diversität.

Seine Arbeitsstellen nutzte er, um in der Praxis dazuzulernen und sein theoretisches Wissen praktisch anzuwenden. So wurde Antidiskriminierungsarbeit zu Emres Spezialgebiet. Er entwickelte sich nach und nach zu einem anerkannten Experten in einem Feld, für das es bisher keine konkrete Ausbildung gibt. 2021 wurde er schließlich von Google für seine aktuelle Position abgeworben.

Emre setzt sich aber nicht nur beruflich, sondern auch privat für eine offene und tolerante Gesellschaft ein. Er engagiert sich insbesondere für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transpersonen und intersexuellen Menschen (LSBTQI+). Zusammen mit anderen hat er deshalb einen Verein gegründet: WeSpeakYouDonate bringt Unternehmen und gemeinnützige Organisationen durch Gespräche zusammen, um ihre soziale Wirkung zu steigern. Die Honorare gehen zu 100 Prozent an kleine Vereine und Organisationen, die sich für Vielfalt und Gleichberechtigung in der Gesellschaft einsetzen. Die Idee dazu kam ihm, als er immer häufiger als Speaker angefragt wurde und ein zusätzliches Einkommen erzielte. „Ich bin damals in eine Beratungsstelle gekommen, die junge lesbische Mädchen berät. Der Beratungsraum sah aus wie ein Gefängnis! Die hatten kein Geld für eine schönere Einrichtung. Da kam mir die Idee, meine Honorare zu spenden“, erzählt Emre von den Anfängen. Er selbst hat seine kompletten Vortragshonorare an Vereine in München gespendet, die, wie er sagt, „geholfen haben, dass ich mich selbst finden konnte“, darunter ein queerer Fußballverein und ein queeres Jugendzentrum. „Mit dem Verein will ich die Aufklärungsarbeit stärken.“

WeSpeakYouDonate genügte Emre jedoch noch nicht. „Ich würde gerne nachhaltig etwas verändern“, sagt er, „so kam mir die Idee mit den Spielen.“ „Die Spiele", das sind Spiele für die Auseinandersetzung mit stereotypen Rollen- und Berufsbildern, die sich vor allem an Eltern richten. Zusammen mit einer Freundin gründete er dafür die Firma Occtopus. Sie ist Partnerorganisation der Initiative Klischeefrei. „Hier geht es eigentlich gar nicht um die Eltern, sondern um die Struktur“, ergänzt Emre. Denn: „Wenn zum Beispiel ein junger Mann sagt, der technische Beruf ist wirklich mein Interesse, dann müssen wir das hinterfragen. Habe ich diesen Wunsch, weil mir das gesellschaftlich antrainiert wurde, also weil ich als Mann so konditioniert wurde, oder ist es wirklich mein Interesse? Es gibt ganz tolle Hauswirtschafter, ganz tolle Kindergärtner, ganz tolle Employee Relations Manager. Umgekehrt gilt das gleiche für Mädchen.“ Die Spiele setzen deshalb schon im Kita- und Grundschulalter an, sodass Stereotype so früh wie möglich hinterfragt werden.

Nach seinen Vorbildern gefragt, nennt Emre neben dem schon erwähnten Chef seines Ausbildungsbetriebs seine Mutter. „Sie hat nie dem Klischee einer typisch türkischen Mutter entsprochen. Sie ist ihren eigenen Weg gegangen, und sie war die Person, die sowohl das Essen zubereitet als auch das Geld nach Hause gebracht hat. Sie hat sich für uns tagtäglich eingesetzt.“

Jungen Menschen rät er, den eigenen Bedürfnissen zu folgen und sich nicht von anderen Meinungen beeinflussen zu lassen. „Es ist absolut okay, wenn man keinen geraden Lebenslauf hat. Es ist absolut okay, eine Ausbildung oder ein Studium abzubrechen oder einer neuen Leidenschaft nachzugehen. Man wird automatisch erfolgreich, wenn man seinen Leidenschaften folgt“, ist Emre überzeugt. Er selbst ist das beste Beispiel dafür.

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