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05.12.2022

„Rollenbilder haben einen entscheidenden Einfluss“

Interview mit Sandy Jahn, Initiative D21

Sandy Jahn beschäftigt sich als Referentin bei der Initiative D21 mit Fragen von digitalen Kompetenzen und Bildung. Sie hat Psychologie und Mensch-Maschine-Interaktion studiert und ist eine Expertin für die unterschiedlichen Facetten des Digital Gender Gaps.

 „Rollenbilder haben einen entscheidenden Einfluss“

Die Sonderauswertung des D21-Digital-Index zum Digital Gender Gap belegt, dass Frauen in fast allen Kompetenzfeldern über weniger ausgeprägte digitale Kompetenzen verfügen als Männer. Eine naheliegende These ist, dies auf vorhandene Rollenbilder und Geschlechterklischees sowie auf unser aller Sozialisierung innerhalb dieser Rollenbilder zurückzuführen (Männer = Technik, Frauen = Soziales). Welche Ursachen für den Digital Gender Gap haben Sie anhand der Erhebungsdaten herausfiltern können?  

Für die Geschlechterunterschiede bei den Kompetenzen spielen Alter und Bildungsgrad eine wichtige Rolle. Jüngere Menschen sind digital kompetenter als ältere, ebenso höher Gebildete. Frauen sind heute genauso gut wenn nicht sogar besser gebildet als Männer. In früheren Jahrzehnten war das noch anders. Trotzdem gibt es noch dieses Kompetenzgefälle, auch bei jüngeren Jahrgängen. Großen Einfluss haben auch der Beruf und die Hierarchieebene. Menschen, die im Büro arbeiten, verfügen über ausgeprägtere digitale Kompetenzen als Menschen zum Beispiel in einem Gesundheits- oder Produktionsberuf. Führungskräfte sind kompetenter als einfache Beschäftigte. Da sich Frauen und Männer unterschiedlich auf Berufe und Hierarchieebenen verteilen, beeinflussen diese Strukturen auch die Ausprägung digitaler Kompetenzen. Deutlich mehr Männer als Frauen arbeiten in Führungspositionen oder in IT-bezogenen Berufen. Mit den uns vorliegenden Daten können wir jedoch keinen direkten Zusammenhang zwischen Rollenbildern und Kompetenzen berechnen.

Die Rollenbilder scheinen aber doch eindeutig einen Einfluss auf die digitalen Kompetenzen zu haben?

Bezogen auf das digitale flexible Arbeiten können wir den Einfluss des gelebten Rollenbildes nachweisen. Er tritt deutlich zu Tage, wenn Kinder unter 18 Jahre im Haushalt leben. Nehmen wir zum Beispiel die Wahrnehmung von Homeoffice von Männern und Frauen mit und ohne Kinder unter 18 Jahre im Haushalt. Während bei Frauen der positive Effekt, den flexible Arbeitszeiten und -orte auf Lebens- sowie Arbeitsqualität haben, mit Kindern unter 18 Jahren im Haushalt abnimmt, nimmt er bei Männern mit Kindern zu, jeweils im Verhältnis zu allen Frauen bzw. allen Männern. Wir vermuten deshalb, dass Männer die Möglichkeit zum flexiblen und digitalen Arbeiten anders nutzen als Frauen. Frauen sind häufig Mehrfachbelastungen durch Beruf, Haushalt und Sorgearbeit ausgesetzt, was direkt mit Rollenbildern verknüpft ist. Sorgearbeit ist der Hauptmotivator für die Reduzierung der Arbeitszeit, und die große Mehrheit der Teilzeitbeschäftigten sind Frauen. Männer nutzen die digitalen Möglichkeiten, um abends, wenn die Kinder im Bett sind, zu arbeiten oder eben um sich fortzubilden oder neue Dinge auszuprobieren. Frauen tun das viel weniger.

Als weiteren Indikator für die Rolle von Geschlechterklischees können wir die Altersgruppe der 14-25-Jährigen hinzunehmen, die noch selten Kinder haben. Hier sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sehr viel kleiner. Kinder verändern komplett die Dynamik und Struktur in der Beziehung.

Die Selbstbilder der Geschlechter spielen ebenfalls in den Kompetenzerwerb hinein. Männer haben eher den Anspruch an sich, mitzuhalten. Es wird gesellschaftlich mehr honoriert, es wird sogar erwartet, dass sie sich technisch auf dem Laufenden halten. Der Digital Gender Gap entsteht aus dem Zusammenspiel mehrerer Komponenten.

Wo müsste man ansetzen, wenn man die digitalen Teilhabemöglichkeiten von Frauen insgesamt verbessern will?

Um die digitale Teilhabe von Frauen zu verbessern, gibt es viele Stellschrauben. Man muss früh ansetzen und Mädchen den Nutzen der Technologien und Anwendungen aufzeigen. Beim Girls’Day erleben wir immer wieder, dass Interesse an der Digitalisierung viel mit der Lebenswelt junger Frauen zu tun hat. Man sollte immer wieder hinterfragen: Gibt es strukturelle Gegebenheiten, die Frauen von digitalen Anwendungen abhalten? Das Beispiel der Familien mit Kindern verdeutlich das gut, strukturell bräuchten wir eine gleiche Verteilung der Sorgearbeit. Fast die Hälfte der in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung stehenden Frauen arbeiten in Teilzeit, aber nur etwas mehr als jeder zehnte Mann. Wir stellen regelmäßig fest, dass Unternehmen keine Kennzahlen zu den eigenen Mitarbeitenden haben. Wer wird mit welchen technischen Geräten ausgestattet, wer bekommt eine Weiterbildung, wen schließen wir vielleicht aus und warum? Studien belegen, dass Teilzeitkräfte und Geringqualifizierte seltener Weiterbildungen wahrnehmen als Vollzeitkräfte und höher Qualifizierte. Mit solchen Kennzahlen könnten Unternehmen die Qualifizierung ihrer Mitarbeitenden besser steuern und struktureller Benachteiligung entgegenwirken. Branche, Position und Arbeitszeitmodell sind ausschlaggebende Faktoren für den Gender Pay Gap. Meine These ist, dass sie auch die größten Einflussfaktoren für den Digital Gender Gap sind. Teilhabe an Digitalisierung sollte kein Statussymbol sein.

Die ICILS-Studie (2018) weist für Mädchen in der 8. Klasse bessere oder nahezu gleich ausgeprägte digitale Kompetenzen nach wie für Jungen, je nach Kompetenzfeld. Können wir damit rechnen, dass der Digital Gender Gap in naher Zukunft verschwindet?

Der Digital Gender Gap wird sich nicht auswachsen, weil er ein strukturelles Problem ist: Die Mädchen, von denen Sie sprechen, leben im gleichen System wie die Generationen vor ihnen, in dem Geschlechterstereotype wie gesagt eine wichtige Rolle spielen. Diese verschwinden mit einer neuen Generation von Mädchen und Frauen leider nicht von selbst. Veränderung braucht einen gewissen Druck, aber auch Eigeninteresse. Es gibt ja das „Equality Paradox“: In Ländern, in denen Frauen kaum gleichberechtigt sind, sagen Eltern ihren Töchtern: „Wenn du selbstbestimmter und freier leben willst, wirst du Ärztin, Anwältin oder Informatikerin.” In diesen Ländern ist der Frauenanteil in MINT-Fächern vergleichsweise hoch. In Ländern mit fortgeschrittener Gleichberechtigung wie in Skandinavien oder auch in Deutschland gibt es diesen Druck zum Glück nicht. Das Denken in traditionellen Rollenbildern ist aber trotzdem noch da.

Der D21-Digital-Index fußt zum Teil auf Selbsteinschätzungen. Frauen neigen dazu, ihre Kompetenzen geringer einzuschätzen als Männer. Die Teilnehmerinnen der Befragung könnten also eigentlich digital viel kompetenter sein, als sie selbst denken und als Sie mit der Studie messen können. Was müsste getan werden, um die Selbstwirksamkeit von Frauen zu stärken?

Je mehr positive Nutzungserfahrungen man macht, desto höher ist die Selbstwirksamkeitserwartung. Kinder und Jugendliche brauchen Hilfe zur Selbsthilfe, damit das schon so früh wie möglich im Leben gelingt. Sogenannten Transferkompetenzen – um die geht es hierbei nämlich – fehlen häufig, aber nicht nur bei Mädchen. Der spielerische Aspekt im Sammeln von Erfahrungen müsste im Unterricht stärker sein, weg von dem „One-size-fits-all“-Modell. In der Schule sollte deshalb das projektorientierte Lernen eine größere Rolle spielen. Schüler*innen müssen Dinge ausprobieren, ohne dass die Angst, Fehler zu machen, sie dabei zu sehr hemmt. Der Weg ist das Ziel. So machen junge Menschen die Erfahrung, dass sie Dinge bewegen können und dass man in jedem Projekt viele unterschiedliche Stärken braucht, die zusammen zum Erfolg führen. Dabei sollte man den Schüler*innen freistellen, mit welchen Aspekten sie sich beschäftigen wollen. Es ist nicht zielführend, Mädchen zum Programmieren zu zwingen, wenn es auch andere Bereiche gibt, in denen sie mit Technik und Digitalisierung zum (Projekt-)Ziel beitragen können. Viel wichtiger ist die Erfahrung, dass sie ihre eigenen Stärken einbringen und sich weiterentwickeln können.

Auch die digital kompetenten Mädchen aus der ICILS-Studie können sich nur zu einem Drittel einen Beruf mit IT-Bezug vorstellen. Was resultiert daraus für die Bemühungen, mehr Frauen für MINT-Berufe zu begeistern?

Es ist das eine, Mädchen und junge Frauen für die IT zu begeistern; umsetzbare Angebote zu schaffen, ist nochmal etwas ganz anderes. Mädchen finden zum Beispiel die Angebote des Girls’Day ganz cool, wollen dann aber doch kein technisches Fach studieren. Zusammen mit weiteren Angeboten, die die Selbstwirksamkeitserfahrungen im Girls’Day ergänzen und so stärken, könnte das Erlebte nachhaltiger wirken.

Mit Sandy Jahn sprach Margit von Kuhlmann.

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