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Vaclav Demling

Was hat Frühe Bildung mit Berufswahl zu tun? Eine Einführung.

Der Berufs- oder Studienwahl geht normalerweise ein mehrere Jahre andauernder Orientierungsprozess voraus. In diesen Prozess fließt vieles ein: Vorbilder im Umfeld, die Meinung der Eltern, der Lehrerinnen und Lehrer und des Freundeskreises, das lokale Ausbildungsplatzangebot, aber vor allem auch das Geschlecht. Doch sollten nicht die eigenen Stärken und Interessen die Berufswahl bestimmen, unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit?

Was hat Frühe Bildung mit Berufswahl zu tun? Eine Einführung.

Viele Jugendliche verbinden einen Großteil der Berufe mit bestimmten Vorstellungen, die sie im Laufe der Kindheit gewonnen haben. Dazu gehört, dass die meisten Berufe mit einem bestimmten Geschlecht in Verbindung gebracht werden. So sind Berufe im Handwerk, in der Industrie oder in der Landwirtschaft männlich konnotiert, Erziehungs-, Bildungs- und Pflegeberufe hingegen weiblich. Dies führt vielfach dazu, dass junge Menschen viele Berufe und zum Teil ganze Berufszweige von vornherein für sich ausschließen, weil sie – den Klischees entsprechend – nicht dem entsprechenden Geschlecht angehören. Auch wenn viele junge Menschen noch gar nicht genau wissen, welchen beruflichen Weg sie später mal einschlagen möchten, schließen sie so viele berufliche Möglichkeiten für sich von vornherein aus. Hinzu kommt ein oft nur lückenhaftes Wissen über die Vielfalt der Ausbildungsberufe und Studiengänge.

Zwar unterstützen Berufsorientierungskonzepte an Schulen und die Aktivitäten der Arbeitsagenturen, der Kammern und Hochschulen Jugendliche darin, ihre Berufswege zu finden. Die Statistiken zeigen jedoch, dass die Geschlechtszugehörigkeit nach wie vor ein sehr bestimmender Faktor bei der Berufs- und Studienwahl ist, dem nicht immer die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Berufsfindung findet demnach nicht unvoreingenommen statt, da Jugendliche bereits viele Sozialisationsprozesse durchlaufen haben, die dazu führen, dass die Berufsorientierung klischeebehaftet und nicht selten von Geschlechtsstereotypen geprägt ist.

Berufsbilder in der Kindheit

Während der formalisierte Berufswahlprozess im Alter von ca. 13–18 Jahren stattfindet, entwickeln Kinder schon sehr früh individuelle, subjektive Berufsbilder und Berufsfantasien. Die Entstehung dieser Bilder wird geprägt vom Elternhaus, vom gesellschaftlichen Milieu, von der Kindertagesstätte, der Gruppe der gleichaltrigen Kinder und später der Grundschule. Nicht zuletzt üben Medien – Bücher, Filme, Serien, Spiele etc. – einen großen Einfluss auf kindliche Berufsvorstellungen aus. All diese Einflussfaktoren sind in der Regel hochgradig mit Geschlechterklischees verknüpft und legen Mädchen und Jungen häufig verschiedene berufliche Optionen nah. 

Erwachsene, die Jugendliche bei der Berufswahl unterstützen oder begleiten, stehen vor der Herausforderung, dass sie jungen Menschen Orientierung in einer Phase geben sollen, in der viele von ihnen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit bereits einengende Vorstellungen haben. 

Der Berufswahlprozess benötigt jedoch eine Offenheit im Blick auf die eigene berufliche Zukunft. Junge Menschen sollten ihre persönlichen Stärken, Potenzialen und Talente als Maßstab für ihre Berufswahl nehmen und sich nicht von Erwartungshaltungen oder Geschlechterklischees leiten lassen. Denn: Wenn sich Menschen beruflich selbst verwirklichen können, profitiert das Individuum, die Wirtschaft und nicht zuletzt die Gesellschaft. 

Berufsorientierung in der Kindertagesstätte?

Setzt also die Berufsorientierung mit ersten Maßnahmen in weiterführenden Schulen zu spät an? Nicht unbedingt. Oder anders gesagt: Berufsorientierungsunterricht ab Klasse 1 oder gar in der Kita ist sicherlich nicht zielführend. Notwendig ist allerdings eine klischeefreie Offenheit auf Seiten der Kinder und der Erwachsenen, wenn die Berufsorientierung in der Sekundarstufe 1 beginnt. 

Diese Offenheit kann auch dadurch erreicht werden, dass Geschlechterklischees in der Frühen Bildung kindgerecht thematisiert und Kinder ermutigt werden, sich vielseitig auszuprobieren. Wenn Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer Kindern zeigen, wie vielfältig Menschen und ihre Lebenswege sind und wie sich diese Vielfalt auch im Berufsleben widerspiegelt, bestärken sie Kinder, ihren Interessen nachzugehen und ihre individuellen Neigungen, Stärken und Talente unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit zu entdecken. 

Voraussetzung dafür ist, dass die Erwachsenen im Umfeld der Kinder sich der Klischees und auch ihrer eigenen Vorurteile bewusst sind und sie kritisch reflektieren. Wir alle reproduzieren bewusst und unbewusst Geschlechterklischees und tragen sie an Kinder heran, die diese Stereotype verinnerlichen und sich an ihnen orientieren. 

Mädchen mit Puppe

Wie die Geschlechtsidentität entsteht 

Kinder orientieren sich an erwachsenen Bezugspersonen und beginnen im Kleinkindalter, sich und andere einem gesellschaftlich vorgegebenen Geschlecht zuzuordnen. Zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr nehmen sie in der Regel an, dass das Geschlecht eines Menschen bleibend und unumkehrbar sei. Dieses Lernen findet nicht nur in Kindertagesstätten, bei Tagesmüttern und Tagesvätern statt, sondern insbesondere auch in der Familie und anderen Orten der Frühen Bildung wie etwa Musikschulen und Sportvereinen. 

Entscheidend in diesem Lernprozess sind vor allem die Erwartungen der erwachsenen Bezugspersonen. Diese Erwartungshaltung gegenüber Kleinindern ist mehrfach in sogenannten Baby X-Experimenten gezeigt worden, in denen Testpersonen mit einem vermeintlichen Jungen bzw. vermeintlichen Mädchen spielen (also einem Mädchen in typischer Jungenkleidung bzw. einem Jungen in typischer Mädchenkleidung). Die Erwachsenen schreiben den Kindern aufgrund ihrer Kleidung „geschlechtstypische“ Eigenschaften zu und animieren sie zu entsprechenden Tätigkeiten und Spielen und interpretieren das gezeigte Verhalten mal als „typisch“ männlich oder mal als „typisch“ weiblich. Diese Zuschreibung beginnt bereits während der Schwangerschaft und setzt sich während des Heranwachsens des Kindes fort. 

Im Kindergartenalter fangen Kinder an, ein Verständnis davon zu entwickeln, dass sie einem Geschlecht angehören und teilen Menschen nach Geschlecht ein. Diese ihnen beigebrachte Kategorisierung zwischen gesellschaftlich konstruierten Geschlechterbildern vertreten sie teils vehement, denn das Sortieren von Dingen nach Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten ist in diesem Alter besonders ausgeprägt.  

Bei etwa 3- bis 6-Jährigen lässt sich beobachten, dass sie häufig zu Spielzeug greifen, von dem sie annehmen, dass es mit der eigenen Geschlechtszugehörigkeit in Einklang steht. Jungen spielen dann häufig mit technikverwandten Spielsachen wie Autos, Lego-Steinen oder Baukästen, während Mädchen nicht selten Puppen, Stofftiere und Küchenherde bevorzugen. Diese Präferenz beruht jedoch maßgeblich darauf, was die soziale Umwelt von Kindern erwartet und wie sie mit ihnen interagiert. 

Diese Beobachtung trifft nicht nur auf Spielsachen zu, sondern auch auf das Spielverhalten von (Klein-)Kindern. So wird beispielsweise beschrieben, dass Mädchen bereits in der ersten Lebenszeit sozial empfänglicher sind, während Jungen sich lieber grobmotorischer betätigen und aggressiver sind. Dies hat allerdings weitaus mehr mit den Erwartungen und Einschätzungen der Eltern und Fachkräfte zu tun als mit tatsächlichen Differenzen zwischen den Geschlechtern. Individuelle Unterschiede innerhalb der Geschlechtergruppen und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, da ist sich die Forschung einig, sind dabei weitaus größer als vermeintliche Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen. 

Auffällig beim Spielverhalten von Jungen und Mädchen ist die Tendenz bei Kindern ab drei Jahren, gleichgeschlechtliche Spielpartnerinnen bzw. Spielpartner zu bevorzugen. Größere Bedeutung gewinnt dieses Verhalten gegen Ende der Kindergartenzeit und zu Beginn der Grundschule. 

Geschlechterbilder spiegeln sich in Berufsbildern 

Wenig überraschend führen die geschlechtsstereotypen Erwartungen von Erwachsenen an Mädchen und Jungen und ihre häufig unterschiedlichen Interaktionen mit ihnen schon in den ersten Lebensjahren zu unterschiedlichen Berufswünschen. Mädchen geben eher helfende, lehrende oder unterhaltende Berufe wie Lehrerin, Ärztin, Sängerin oder Tänzerin an. In der Gunst der Jungen stehen häufig regelnde, konstruierende oder maschinennahe Berufe wie Polizist, Konstrukteur, Möbelbauer oder Fahrer von Fahrzeugen. 

Diese Vorstellungen und Fantasien über die eigene (berufliche) Zukunft hängen nicht zuletzt mit der Selbsteinschätzung von Kompetenzen zusammen, die sich zwischen den Geschlechtern unterscheidet. Bereits Kinder im Vorschulalter – Jungen wie Mädchen – halten Männer in Bezug auf Reparaturarbeiten und den Umgang mit Computer, Auto oder Werkzeug für geschickter. Das ist nicht weiter verwunderlich, werden ihnen diese Geschlechterrollen doch regelmäßig vorgelebt. 

Dass auch Erziehung und Fürsorge männlich ist, bekommen Kindern zumindest in der institutionalisierten Frühen Bildung selten vorgelebt. Der Anteil männlicher Erzieher in Kindertagesstätten in Deutschland beträgt sechs Prozent bei leicht steigender Tendenz. An Grundschulen sind rund 12 Prozent des Lehrpersonals Männer, bei sinkender Tendenz. Jens Krabel beschäftigt sich im Gastbeitrag dieses Dossiers mit der Frage „Welche Bedeutung hat das Geschlecht pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen für die pädagogische Praxis? Perspektiven aus der Wissenschaft“ 

Geschlechtersensible frühkindliche Bildung schafft mehr Offenheit 

Geschlechterstereotype haben großen Einfluss auf das Verhalten von Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter. Die Förderung einer klischeefreien frühkindlichen Bildung, die für alle Kinder gleiche Verwirklichungschancen ermöglicht, ist auf verschiedene Weise möglich. Anregungen dazu finden Sie in diesem Dossier, in den Materialien, die wir hier verlinken, im Kita-Paket „Klischeefrei fängt früh an“ und in unserer Infothek in der Rubrik „Frühe Bildung“. 

Zusammengefasst basiert eine klischeefreie Frühe Bildung auf der Selbstreflexion des pädagogischen Fachpersonals, auf aktiver Elternarbeit, auf einem Konzept für die Gestaltung der Lern- und Spielräume, vor allem aber auf der pädagogischen Arbeit an sich. Darüber hinaus führt ein Ausbau des Männeranteils beim Fachpersonal zu mehr ge- und erlebter gesellschaftlicher Vielfalt in der Frühen Bildung und dazu, dass es Kinder und Erwachsene als selbstverständlich erachten, dass Kümmern in einem professionellen Kontext auch männlich ist. 

Diese vier Säulen, Erziehungsarbeit, Elternarbeit, Raumgestaltung und personelle Vielfalt, dürfen dabei nicht unabhängig voneinander gedacht werden, sondern müssen in ein kohärentes Gesamtkonzept einer klischeefreien Pädagogik gebracht werden. 

Fazit: Eine Klischeefreie Berufs- und Studienwahl fängt früh an! 

Ein Berufswahlprozess ohne Geschlechterklischees ist auf eine klischeefreie Frühe Bildung angewiesen. Eine solche frühkindliche Bildung und Erziehung fördert die Entwicklung individueller Interessen und Stärken unabhängig vom Geschlecht. Sie sorgt einerseits dafür, dass bei jedem Kind frühzeitig persönliche Vorlieben und Potenziale erkannt und gefördert werden. Andererseits sorgt eine klischeefreie Frühe Bildung dafür, dass Jugendliche unvoreingenommen in den Berufswahlprozess gehen und Berufe und Geschlechter nicht in Schubladen einteilen, sondern offen bleiben für Tätigkeiten, die ihnen liegen und in denen sie sich selbst wiederfinden.

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